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exground number one – virgin tales

Im Rahmen des exground Filmfestivals 25 habe ich heute den ersten Film für diese Woche angesehen: „Virgin Tales“, ein Schweizer Dokumentarfilm von Mirjam von Arx, der ein tief amerikanisches Thema beleuchtet: Das evangelikale, konservative Christentum. Zurück von der Vorführung im Murnau Filmtheater, denke ich nach über Eindrücke die ich daraus mitgenommen habe.

Mirjam von Arx hat für die Dokumentation die Familie Wilson, die Gründer sogenannter Jungfrauenbälle, begleitet und ein intensives und sehr intimes Portrait der gezeigten Familie und der Lebenswirklichkeit der hübschen Töchter geschaffen, die jungfräulich in die Ehe gehen werden oder schon gegangen sind. Und die sowohl von der Sache und ihrem Glück auserwählt zu sein überzeugt sind, als auch – auf den ersten Blick – von ihrer Freiheit. Wie frei kann diese Entscheidung sein, als Teil der Familie die für viele andere Christen das Vorbild des eigenen Glaubens repräsentiert?

Der Text in der Vorschau des Exgroundheftes schreibt: „Evangelikale, ultrakonservative Christen, die aktuell etwa ein Viertel der US-amerikanischen Bevölkerung ausmachen, propagieren Keuschheit als Gegenbewegung zu Gesinnung und Praktiken der modernen Kultur. So gelobt bereits jedes achte Mädchen unbefleckt in die Ehe zu gehen.“

Die Jungfrauenbälle zelebrieren junge hübsche, wohlhabende Mädchen in weißen Kleidern, sanft und unschuldig um ein großes Holzkreuz tanzen. In einem reich geschmückten Ambiente, mit Schmuck, Blumen, teurem Buffet, teuren Kleidern und nur unter ihres gleichen. Die Atmosphäre wirkt unwirklich friedlich und zeigt Familien für die Zwietracht ein Fremdwort zu sein scheint. Im Zentrum dieses jährlichen Rituals steht ein Gelübde der Väter, sich um die Töchter zu sorgen und sie zu schützen – ihre Reinheit zu wahren und sie zu ehren. Es wird auch das Vater-Tochter fest genannt und ist mittlerweile in vielen US Staaten üblich. Auch schon in Europa (Finnland). Die Väter halten ihre jungen Töchter in den Armen, sie sind zwischen 9 Jahren und knapp über 20 Jahre alt. Erst mit der Heirat ist dieses Ritual vorbei. Der Ehemann wird den Vater ablösen. Weinende 10 jährige Mädchen geloben wie sehr sie ihren Vater lieben und dass sie keinen besseren Mann auf der Welt kennen und sie sich einen Ehemann wünschen der wie ihr Vater sein wird. Und nur so sein soll. Auf der einen Seite denkt man als Frau zurück und überlegt, wie sehr einem selbst eine derart innige Bindung zum eigenen Vater in Kindheit und Jugend wohl gut getan hätte, so haben diese Szenen auf der anderen Seite irgendwie einen bitteren Beigeschmack.

Die Liebe, die in dieser Familie herrscht, die enge Bindung unter den Familienmitgliedern scheint auf den ersten Blick wie eine schöne Utopie. Doch was mit einiger Empathie und mit der dokumentarischen Leistung von Mirijam von Arx, die ganz nah an die Familie herankam, sichtbar wird, ist der große Druck der auf den Kindern lastet. Zwar stellt die Filmemacherin nur wenige der möglichen kritischen Fragen, aber einige wenige legen Teile der christlichen Doppelmoral definitiv offen. Sie ging nie so weit, das Vertrauen dieser Familie zu verletzen, denn zu viel offene Skepsis hätte die Nähe und die Sensibilität dieses Filmes mit Sicherheit gefährdet. Doch die Frage was denn wäre, wenn es einen Freund einer Tochter gäbe und der noch dazu physisches Interesse hätte, lies einige verworrene Aussagen entstehen und tief blicken. Was wäre wenn eine Tochter sich anders entscheiden würde? Was wäre wenn? Wenn nach Meinung der Eltern, jeder der nicht im Sinne Gottes handelt „in der Hölle landet“ und das den Kindern von Geburt an eingebläut wird und sie daran glauben, dann ist der Druck so groß dass keine pubertäre Rebellion aufkommen kann, das dieser Gedanke sich zu widersetzen nicht aufkommen kann. Der einzige Gedanke den die Mädchen haben ist, wann schickt mir Gott den richtigen Mann, wann werde ich heiraten, wie wird die Heirat sein, wie wird das Warten sein, wie lange noch, etc. Für andere Gedanken ist kaum Platz. Und darum dreht es sich auch bei Treffen unter den Mädchen um nichts anderes, bei denen Benimmregeln aus 1920 vermittelt werden und Schönheit und Anmut eindeutig und ohne kritische Fragestellung an erster Stelle des Lebens stehen. Schönheit und Anmut haben mehr Bedeutung eine Ausbildung oder ein Studium, diese Frauen werden nur Ehefrau und Mutter sein und für die Kirche missionarisch arbeiten. Ein Beruf, eine Ausbildung „ist unnütz“. Wie schwer ist es noch dazu für diese Jugend in unserer medial geprägten schnellen Welt, die so völlig unchristlich und sexuell offen orientiert ist sich zu behaupten und ständig zu rechtfertigen? Nichts davon wurde gezeigt, nur mal angesprochen, aber man spürt und weiß es doch irgendwie, wie immens groß dieser Druck sein muss und wie viel Halt die Umgebung der Gleichgläubigen geben muss.

Auch der Schnitt mit zeitpolitischen Szenen und Demonstrationen von fundamentalen Christen gegen die homosexuelle Eheschließung weichen von der Objektivität ab.

Was ist eigentlich mit den Jungs? Unter den Schwestern ist ein Bruder, der gerade übergeht vom Kindes- ins Erwachsenenalter. Bewundernd schaut er auf seinen Vater und auf die Ehemänner seiner zwei ältesten Schwestern. Am Fest bei dem er unter die Männer aufgenommen wird, legt er seinen Plan offen im Krieg direkt an die Front zu gehen, an eine der gefährlichsten Stellen, ganz nahe dem „Feind“ will er sein. Ein Ehemann der älteren Schwester dem dieser Wunsch auch als Beweis der Bewunderung gilt, ist selbst Soldat. Ihm gegenüber muss der jüngere  sich beweisen, will ihn überbieten und weiß doch noch überhaupt nicht was das bedeutet, was er da sagt. Leichter Schock und Verwirrung ist zu vernehmen in den Augen von Vater und Schwager. Doch wie viel Möglichkeiten bleiben dem Jungen in seinem Umfeld sich als werdender Mann anders zu beweisen?

Für uns hier, fern von diesen Einstellungen in Politik, Schule, Alltag, Konsum mag vieles was wir hören schockierend sein, aber dennoch empfand ich das Verhalten vieler Einzelner im Publikum als völlig unangemessen. Häufig wurde gelacht über Emotionen und sensible religiöse Empfindungen und Ansichten der Protagonisten (die niemanden darstellen sondern ihr echtes Leben zeigen). Es wurde kommentiert, geseufzt, missachtende Gesten und Geräusche laut von sich gegeben, sodass es andere Kinobesucher im Verfolgen des Filminhaltes beeinträchtigte. Warum muss man so umgebungswirksam seine Meinung kund tun? Wen interessiert das? Und woher kommt diese unglaubliche Arroganz gegenüber einer „anderen Kultur“, einer anderen Lebenseinstellung und Lebensplanung gegenüber? Woher diese Überheblichkeit? Warum können diese Menschen nicht einfach zuhören, mitdenken und mitfühlen? Für mich war nicht nur oberflächlich manche Ansicht vielleicht lächerlich, doppelmoralisch oder von vorvorgestern – nein für mich standen da Menschen, die das alles wirklich fühlen, wirklich ernst nehmen,  die sich selbst zum Außenseiter damit machen und die vielleicht doch in manchen Momenten darunter leiden (vielleicht auch nur ohne es sich selbst einzugestehen).

Die Grundüberzeugungen dieser Familie und ihrer Freunde zusammengefasst:

– (Küssen und) Sex erst nach Eheschließung.

– Ehe bis zum Tod – Keine Scheidung („die Ehe ist der Grundstein unserer Liebe und selbst wenn sie geht werden wir an der Ehe halten wie Gott es verlangt und er wird unseren Weg weisen, etc.“)

– gegen Homosexualität

– Verteidigung des Landes. Sie sind nicht gegen Krieg. Überzeugter Soldat zu sein schließe Gottes Willen nicht aus. Überzeugung, dass Gott die eigenen Soldaten beschützt.

– Alleinstellungsmerkmal. Andere Religionen gelten nicht. Ein moralisches Leben ohne Jesu und Gott führe ebenso zur Hölle wie ein unmoralisches.

– Zensur in Film und Fernsehen (Sexszenen werden weg gespult „die brauchen wir nicht“)

– Heimunterricht für die Kinder. Genaue Auswahl der Lehrbücher und Inhalte. Wissenschaft darf die kirchliche Lehre nicht in Frage stellen.

Von der ersten Sekunde ist man mittendrin in diesem Film. Er kommt ohne Bibelzitate aus. Umso öfter hört man von der Liebe zu und von Gott. Ein sehr sensibler Film bei dem ich mir mehr Sensibilität unter den Zuschauern gewünscht hätte. Neben der Doppelmoral bezüglich dem Töten, Quälen und Essen von Tieren, dass ich bei Christen grundsätzlich sehe, kommt speziell bei den Amerikanern die Doppelmoral bezüglich der Kriegsbejahung dazu und die Doppelmoral des liebenden Gottes, der moralische Menschen ausschließen soll, weil sie den falschen Gottesnamen anbeten oder einfach nur anderen Lebensplanungen folgen als die Ultrakonservativen in die Bibel hineininterpretieren.

Eine Sache bleibt, die ich als erwähnenswert empfinde. Die feindliche Welt der Schnelllebigkeit, der Lieblosigkeit, des Konkurrenzkampfes untereinander in unserer Konsumkultur, ist das was von den Christen besonders kritisiert wird und zu dem sie sich als Gegenbewegung sehen möchten. Und genau das ist das positive an der religiösen Erziehung der Kinder. Aus Beobachtung habe ich schon oft festgestellt das eine religiöse Erziehung Werte vermittelt, die sehr ehrliche, moralische, hilfsbereite, empathiefähige und loyale Menschen hervor bringt. Es sind Werte die unser Zusammenleben stark verbessern würden, wenn sie weiter verbreitet wären, als sie es jetzt sind. Ein Argument das Christen gern zur Missionierung nutzen. Besonders in der herzlosen und die schwächeren und ärmeren ausbeutenden Wirtschaft wäre eine höhere Ethik mit echten Werten eine Gegenbewegung, ebenso wie in korrupter Politik. Doch brauchen wir dazu diesen Zwang? Müssen wir Menschen dazu das Recht nehmen zu entscheiden mit wem sie sich wie lange einlassen, zu entscheiden zu welchem Gott sie beten oder ob sie überhaupt glauben? Braucht man dazu die Bibel? Man kann doch Werte auch religionsfrei vermitteln. Ob es nun Werte sind im Umgang mit der Natur, sie zu schätzen aus Respekt vor ihrem Alter, aus Liebe zu ihrer Vielfalt und Schönheit, etc. Man kann Kinder zu Werten erziehen und das ist etwas was wirklich fördernswert ist und unserem Miteinander die Kälte nehmen kann. Aber brauchen wir dazu konservatives Christentum? Und sind solche Werte mit diesem Christentum überhaupt immer verbunden, sind sie nicht oft nur Pseudowerte? Denken wir allein an die Verbrechen, mit denen die katholische Kirche allein in Europa, allein in Deutschland tiefe Spuren in die Geschichte geschlagen hat und es heute noch tut! Einzelne Personen sind nicht zwangsläufig mit den Werten ihrer Kirche verbunden, egal in welcher Position sie sind. Denken wir an die vielen Fälle von Kindesmissbrauch. Und die Kirche als Institution, wie oft hat sie Ihre Werte der Zeit angepasst? „Der Sklave soll sich mit seiner Situation arrangieren und sich nicht beklagen. Dass die schwarzen den weißen dienen ist Gott gewollt“ war einst die Predigt der Kirche. Ähnlich verteidigte sie die „Rassenhygiene“ zur NS Zeit und argumentierte gegen Juden. Und heute rechtfertigt die amerikanische Christenheit den Krieg gegen den Terror in Afghanistan. Vielleicht vergisst die Kirche hinter all ihren Werten und all den Psalmen und Regeln die Menschen und ihre wahren Bedürfnisse. Und vielleicht vergessen so manche Kirchenoberhäupter sogar Gott selbst.